Eine kurze wahre Geschichte

von Margarete Schmitz

Mein Schwiegervater, Landwirt Johann Schmitz, geb. 7. Juli 1869 in Esch, war nur bekannt unter dem Namen "der Pötz. (Ein Brunnen = Pötz vor seinem Hof brachte ihm diesen Beinamen ein.) Von seiner Jugend an war er in unserer Pfarre der "Beiermann"!

Beiern nennt man das Anschlagen des Klöppels an einer unbewegt hängenden Glocke. Um den Klöppel wird ein Seil befestigt und bis kurz vor die Glockeninnenwand angezogen. Die anderen Seilenden hält der Beiermann in den Händen. Dann kann das Glockenspiel beginnen. Abwechselnd wird im Rhythmus gegen die Glocken geschlagen. Die Beiertechnik erfordert körperlichen Einsatz, da man die Seile kräftig anziehen muß, um die Glocken zum Klingen zu bringen. Die Bewohner von Esch freuten sich immer, wenn vom alten Kirchturm das Beiern ertönte.

Leider wurde aber am 9.10.1942 unsere größte Glocke, 30 Ztr. schwer, mit der Inschrift "St. Maria", aus dem Turm abgeseilt. Sie sollte zu Kriegszwecken eingeschmolzen werden. Mein Schwiegervater beobachtete traurig wie die schwere Glocke heruntergelassen wurde. Dabei sah ich, wie er sich verstohlen die Tränen abwischte. Seine Reaktion war: "Nun kann ich nie mehr beiern und unsere Turmuhr schlägt keine vollen Stunden mehr." Die Glocke stand vor dem Hauptportal unserer Kirche auf Balken befestigt. Mein Schwiegervater suchte nach einem Plan, die Glocke irgendwie unserer Pfarre zu erhalten. Im Vertrauen sagte er mir: "Heute Nacht gehe ich mit meinen Pferden zum Friedhof, schlinge starke Seile um die Glocke und die Pferde ziehen sie in den nahen Weiher am Fronhof."
Zu dieser Zeit war der Weiher ziemlich tief und reichte von der Fronhofstraße bis fast zur Damianstraße. "Nach dem Krieg", so sagte der Vater, "helfen mir bestimmt viele Escher, die Glocke wieder zu heben."
Mir aber war der Plan zu gefährlich. Ich befürchtete, man würde den Vater bestrafen.
Da mein Mann vom ersten Kriegstag an eingezogen war, mußte der Vater mit zwei polnischen Arbeitern die ganze Arbeit bewältigen. Aus diesem Grunde stellte er seinen Plan vorerst zurück.
Aber kurz darauf hatte er eine neue Idee. Er bat mich: "Hole mir aus dem Räucherschrank zwei Schinken. Die bringe ich dem Kommandanten, der neuerdings im Wernershof Quartier bezogen hat. Der wird mir dann gewiß erlauben, die Glocke in meiner Scheune zu verstecken." Dieser Plan ging leider daneben, denn an diesem Tage wurde die Glocke abtransportiert. Das war für den Vater eine große Enttäuschung.

Nun wollte er wenigstens den Glockenschlag der Turmuhr erneuern. Er ging zur Schmiede und ließ sich eine zwei Meter lange Eisenschiene zurecht schmieden. Diese schleppte er mit seinen 73 Jahren in die Glockenstube. Mit viel Mühe hat er sie dort befestigt und erreichte damit, daß die vollen Stunden an der Schiene anschlugen. Es klang etwas hart, aber unser Vater war stolz, etwas für seine Mühe erreicht zu haben.

Nach Kriegsende wurde eifrig für neue Glocken gesammelt. Bald hatten wir wieder ein klangvolles Geläute.
Im Alter von 15 Jahren hatte mein Mann, Peter Schmitz, schon von seinem Vater das Beiern erlernt. An Blechtonnen, so erzählte er immer, hat er den Rhythmus geübt. Jetzt wurde wieder regelmäßig Ostern, Weißen Sonntag, Fronleichnam und zur Escher Kirmes gebeiert. Ein Fest in Esch begann erst richtig, wenn vom Kirchturm das Beiern ertönte.
Das Steigen in den Kirchturm und die körperliche Anstrengung wurden für meinen Mann immer mühsamer. Eifrig war er auf der Suche nach einem Nachfolger.
Lobenswerter Weise boten sich die drei Brüder Schumacher aus der Chorbuschstraße an, das Beiern zu erlernen. Mehrmals stiegen sie zum Üben mit auf den Turm.
Am 11. September 1982 hat mein Mann zum letzten Mal gebeiert. Er starb am 30. September 1982. Zu seiner Beerdigung beierten Georg, Christoph und Norbert Schumacher, was uns alle sehr bewegte.

Nun wünschen und hoffen wir Escher alle, daß diese jungen Leute noch viele Jahre zur Ehre Gottes und zu unserer Freude die alte Sitte erhalten mögen.